THE WITCHER 3
Wild Hunt

CD Projekt RED

(19.05.2015)

auch veröffentlicht auf
Switch, PS4 und Xbox One


Ja, es ist ENDLICH mal wieder Zeit, mit der Tür ins Haus zu fallen: Seit über 10 Jahren galt für mich "Deus Ex" (2000) als der absolute Meilenstein im Rollenspielgenre. Doch seit zwei Wochen ist dies vorbei. "The Witcher 3: Wild Hunt" wischt geradezu lässig mit allen anderen Rollenspielen den Boden auf. CD Projekt RED ist es wie versprochen gelungen, den Vorgänger "The Witcher 2 - Assassins of Kings" (2011) mit einem Spiel wie dem Open World Megaseller "The Elder Scrolls V: Skyrim" (2011) zu kombinieren und am Ende tatsächlich mit mehr als der Summe der Teile dazustehen.

Was z. B. bei "Assassin's Creed III" (2012) so gar nicht funktionieren wollte, war die Verknüpfung des Haupthandlungsstrangs mit dem Sammelsurium an Minispielen, an dem der Spielspaß elendig erstickt ist. "The Witcher 3" gelingt es jedoch spielend und fließend sog. Hauptquests, Nebenquests, Hexeraufträge und Schatzsuchen ineinander greifen zu lassen, obwohl zumindest auf der einfachsten Spielstufe abgesehen von den Hauptquests alles andere rein optional angeboten wird.

Wenn "optional" keine Qualitätsaussage mehr ist

Z. B. in "Mass Effect 2" (2010) - also einem bereits wirklich verdammt guten Spiel - merkt man sofort, ob man sich auf einem langen, gut gemachten Storyeinsatz 1. Klasse oder mal eben hingeschissenen Kampfeinsatz 2. Klasse befindet. Mal ausgenommen die rein lootorientierten Schatzsuchen macht CD Projekt RED jedoch in "The Witcher 3" keinerlei Abstriche bei der Qualität der Nebenquests und Hexeraufträge, vollkommen unabhängig davon wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass die meisten Spieler diesen Teil des Spiels auch tatsächlich zu sehen bekommen. Wobei Qualität und Verzahnung dann doch dafür sorgen, dass ich als Spieler viel mehr vom Drumherum sehen will als in anderen Spielen.

Hierfür brauchte es neben eimerweise Kreativität und extrem ausgeprägtem handwerklichem Können absolut aller Beteiligter vor allen Dingen Fleiß, Fleiß und noch einmal etwas mehr Fleiß. Die Spielwelt überrollt bezüglich der darin verpflanzten Handlungsdetails jedes andere moderne Spiel um mindestens den Faktor 3 - und das vollvertont und zumindest in der englischen Sprachfassung auf bisher unerreichten Niveau (z. B. die Gespräche mit dem Blutigen Baron sind einfach nur unglaublich). Die ersten Stunden dachte ich unweigerlich immer wieder: "Das halten die nicht durch! Das halten die nie und nimmer durch", aber Scheiße was! Der Einbruch kam nicht!

Ohne mich hier selbst beweihräuchern zu wollen, aber ich kann gar nicht beschreiben, was für eine Freude es für einen halbwegs gebildeten Menschen wie mich ist, ein Spiel von gebildeten Menschen für gebildete Menschen zu spielen. In "The Witcher 3" wird immer wieder mit Moralvorstellungen gespielt ("Warum dürfte ich nicht mit Deiner besten Freundin schlafen, als ich mein Gedächtnis verloren hatte?") und neben den in der Branche üblichen Filmzitaten (z. B. "Fight Club" und "Kill Bill") wird auch ordentlich Fett in Richtung Grimms Märchen, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Pablo Picasso und William Shakespeare gespritzt. Boah, die Theatervorführungen schmerzen!!!

Sollte man die Vorgänger gespielt haben?

Sicherlich ist das die bessere Variante. - Und trotzdem möchte ich - insbesondere für die Playstationboys, die ja nicht einmal den 2. Teil spielen konnten - Entwarnung geben, denn anders als "Mass Effect 3" (2012) begeht "The Witcher 3" als Abschluss der Triologie nicht den Fehler, im Dauerlauf nur mal eben überall den Deckel draufmachen zu wollen. Hier werden in epischer Breite und auch Tiefe so viele neue Geschichten neuer Länder erzählt, dass ich allein mehrere Absätze bräuchte, um zu erzählen, was mir alles passiert ist, bis ich das Tutorialgebiet verlasse habe - und daher versuche ich es im Detail erst gar nicht.

Für Neulinge nur soviel: Spielcharakter Geralt ist ein sog. Witcher/Hexer, ein gezüchteter, mutierter Monsterjäger, meisterlicher Schwertkämpfer, resistent gegen Gifte, immum gegen Krankheiten, die Antwort der mittelalterlichen Spielwelt auf ihre Gefahren durch widernatürliche Kreaturen - von der normalen Bevölkerung meistens gleichermaßen gehasst wie gefürchtet. Geralt ist freiberuflich tätig und eigentlich völlig unpolitisch, nur ist das gerade alles etwas komplizierter, weil das zivilisierte Kaiserreich Nilfgaard etwas sehr siegessicher (mehr Details hierzu erfährt man in "The Witcher 2") einen unprovozierten Angriffskrieg gegen die rückständigen nördlichen Königreiche gestartet hat.

Die Bevölkerung der nördlichen Königreiche wiederum steht alles andere als vereint hinter König Radovid V the Stern, der sich zwar als taktisches Genie entpuppt, aber sonst nicht alle Latten am Zaun hat, und versucht mit Hilfe der Kirche der Spielwelt erst alle Magier und dann auch alle anderen, die ihm nicht gefallen, auf den Scheiterhaufen zu werfen. Und weil das alles noch nicht kompliziert genug ist, streitet sich Geralt mit Kaiser Emhyr var Emreis indirekt darum, wer denn nun tatsächlich die väterlicheren Gefühle für Tochter Ciri empfindet, die als Zugabe wegen ihrer einmaligen magischen Fähigkeiten von der namensgebenden "Wild Hunt" verfolgt wird.

Natürlich trifft man nach und nach auch viele alte Bekannte wieder, aber Neulingen (und meinem schlechten Gedächtnis) kann das Glossar da ein Stück weit auf die Sprünge helfen. Was ich jedoch jedem empfehlen möchte, ist vorher - und sei es auch nur für ein paar Stunden (bis die Folter so richtig wirkt) - "Dragon Age: Inquisition" (2014) oder das bereits erwähnte "Assassin's Creed III" zu spielen, wenn man keines der beiden Spiele bisher selbst gespielt hat, um die unglaubliche Qualität von "The Witcher 3" und seiner "eine Hand wäscht die andere" (oder schlägt sie auch mal ab) Welt besser auf sich wirken lassen zu können.

Gab es ein Grafik-Downgrade?

Herrgott ja!!! - Ich will CD Projekt RED gar nicht bei Dingen in Schutz nehmen, bei denen die Jungs es nicht verdienen. Es ist unbestritten, dass die Videos von der E3 2014 bzw. die Bilder von der Rückseite der Verpackung besser aussehen als das fertige Spiel. Ich verstehe nur nicht, dass da heute noch irgendein Hahn nach kräht. Wir haben nicht mehr das Jahr 1999, in dem wir uns bei "Command & Conquer 2: Tiberium Sun" zu Recht verarscht vorkamen. Dass im Vorfeld gezeigte Präsentationsvideos besser aussehen als das fertige Spiel ist seit etwa 10 Jahren außer bei Spielen von Blizzard der Regelfall. Die Aufregung direkt nach dem Release empfand ich insbesondere als künstlich,

  • weil es von "The Witcher 3" schon seit Monaten Videos gibt, die zeigen, wie das Spiel tatsächlich aussieht. Und es sieht immer noch verdammt geil aus.
  • weil PC Magazine, um ihre News zu füllen, Aussagen zu Konsolen veröffentlichen, wie dass die Details nicht reduziert werden, um auf der Xbox One doch noch 1080p zu erreichen - und bei den PC Spielern dann nur die Sache mit den Details hängen bleibt.
  • weil die "E3 Details" jetzt zum Release lediglich ein paar tausend Spieler weltweit mit zwei aktuellen Highend Grafikkarten gebauchpinselt hätten, die für Ihre Hardware jährlich den drei- bis vierfachen Betrag des Durchschnittsspielers ausgeben.
  • weil CD Projekt RED nichts dafür kann, wenn Grafikexperten in Interviews die Redewendung "kleinster gemeinsamer Nenner" verwenden, obwohl sie "größter gemeinsamer Nenner" meinen.

Wer nach 20 Spielstunden - oder sagen wir besser - wer sich bereits einige Stunden in Novigrad aufgehalten hat - immer noch ernsthaft meint, "The Witcher 3" sieht Scheiße aus, der möge mir bitte das Spiel zeigen, das ungemodded besser aussieht. Und damit meine ich nicht nur sowas wie die Partikeldichte oder ähnlich unwichtigen Scheiß, sondern wie bereits im Vorgänger eine Spielwelt, die sowohl landschaftlich und architektonisch als auch bezüglich der Kleidung der Figuren kaum glaubwürdiger aussehen könnte.

Fast alle Ärgernisse beseitigt

In "The Witcher 2" war das User Interface auf dem Niveau eines Panzerfahrers und besonders die Minimap, die wenig zur Orientierung beigetragen hat, logischerweise nicht mein Ding. Und auch die Art wie ich Tränke hellseherisch einwerfen musste, fand ich daneben. All diese Faktoren haben sich in "The Witcher 3" stark verbessert bzw. wurden durch bessere Konzepte ersetzt, auch wenn es gut zwei Wochen bis zum aktuellen Patch 1.05 am 05.06.2015 gedauerte hat, bis z. B. die Spielökonomie rund lief und die Steuerung in fast jeder Situation wirklich nachvollziehbar und verzögerungsfrei funktionierte.

So ganz bin ich mit der Steuerung zwar immer noch nicht zufrieden, aber für ein Charakter- und Kampfsystem mit derart vielen Möglichkeiten bzw. Synergien gibt es wahrscheinlich gar keine Möglichkeit intuitiver und mit viel weniger Klicks auszukommen. Wovon ich restlos angetan bin, ist das neue Craftingsystem. Sich Gegenstände nach zuvor gefundenen Bauplänen vom Waffen- oder Rüstungsschmied anfertigen zu lassen, macht schwer Gaudi, weil man die benötigten Materialien meist ebenso herstellen kann und dabei nicht nur klassisch von unten (also aus Eisenerz Eisen) sondern auch von oben (also aus Stahlschwert Eisen) kommen kann.

Schwieriger ist besser

Das Charaktersystem ist zweistufig aufgebaut, wirkt zunächst etwas einfach und bis etwa Charakterlevel 18 auch zu restriktiv. Auf der ersten Stufe verbessere ich klassisch eine Fähigkeit mittels sog. Abilitypoints, also etwa zwei Punkte für je 5 % mehr Schaden bei schnellen Schlägen. In der zweiten Stufe muss ich diese Verbesserung jedoch auch tatsächlich aktiv schalten. Mit Level 8 stehen hierfür lediglich fünf Plätze zur Verfügung, mit Level 10 dann sechs. Hintergrund ist, dass man zu keinem Zeitpunkt als Alleskönner durch die Lande ziehen kann, sondern sich gerade auf den höheren Schwierigkeitsstufen intensiv darüber Gedanken machen soll, welche Fähigkeiten neben der richtigen Bewaffnung und Waffenölen für den Bosskampf am Ende jedes Hexerauftrags am nützlichsten sind.

Überhaupt gewinnt das Spiel in meinen Augen enorm, wenn man es etwas schwerer, also auf dem 3. der vier Schwierigkeitsgrade spielt, weil dann auch viele Kämpfe gegen Standardgegner mit gleichen Charakterlevel für einen gut ausgerüsteten Geralt noch spannend bleiben. Ab und an habe ich mich natürlich saublöd angestellt und dann auch den Ladebildschirm sehen dürfen, aber der erhöhte Nervenkitzel ist es einfach wert. Und vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Gegner auf dem höheren Schwierigkeitsgrad mehr Spezialattacken genutzt haben und sich gerade in der Gruppe auch klüger verhielten, mich also mehr unter Druck setzten.

Benötigte Hardware

"The Witcher 3" hat eine unglaublich gute Multi-Core-Optimierung, was bedeutet, dass anders als von offizieller Seite angegeben praktisch jeder Vierkernprozessor seit dem seeligem Core 2 Quad Q6400 (2,13 GHz) aus dem Jahr 2007 spätestens mit etwas Übertaktung das Spiel in Schwung hält. Auf der Grafikkartenseite braucht es in 1.080p tatsächlich mindestens eine GeForce GTX 660. Ich habe mir extra für dieses Spiel eine GeForce GTX 960 gekauft, die für mich derzeit [gemeint ist heute damals] den besten Kompromiss aus Preis, Leistung und Stromverbrauch darstellt. Meine individuellen Einstellungen irgendwo zwischen hoch und ultra laufen auf dieser Karte jederzeit flüssig.

Etwas gewundert haben mich Aussagen wie: "Das Spiel läuft mit 4 GB RAM." Ja, auf der jeweiligen Festplatte läuft es dann weiter, wohl dem der eine SSD hat. Bei mir schiebt "The Witcher 3" selbst 6 GB RAM komplett zu. Unter Windows 7 64 sind mir das allererste Mal überhaupt die 8 GB echtes RAM so knapp geworden, dass Windows gemeckert und Programme zur Schließung vorgeschlagen hat - ich musste also die Auslagerungsdatei (virtuellen Speicher) auf der Festplatte aktivieren. Auslagerungsdatei und Installation des Spiels befinden sich bei mir auf zwei unterschiedlichen, klassischen Magnetfestplatten, was mit dem Spiel sehr gut harmonisiert hat.

Wer keinen entsprechenden PC hat - entspricht etwa 200 € für einen gebrauchten PC und noch einmal knapp 200 € für eine neue GeForce GTX 960 Grafikkarte (oder etwa dem "Potato Masher" im Selbstbau, der tatsächlich mit 4 GB RAM auskommt - liegt's am moderneren Chipsatz des Mainboards?!?) - kann mit leichten Abstrichen auch zur PS4 Version greifen, die ich selbst bereits gespielt habe. Bei der Xbox One Version muss man nach den Vergleichvideos, die ich gesehen habe, allerdings schon mit ein Bisschen Matsche beim Blick in die Ferne leben oder anspruchslos sein. Im Nahbereich und bei Effekten kann ich keine nennenswerten Unterschiede zwischen PS4 und Xbox One ausmachen.

Fazit:

"The Witcher 3: Wild Hunt" ist in meinen Augen nicht nur das derzeit mit einigem Abstand beste Videospiel, es ist vor allen Dingen der Sieg des kleinen CD Projekt RED über die Activisions, EAs und Ubisofts dieser Welt mit ihren jährlichen Aufgüssen nach Schema X und ihrer kurzfristigen Gewinnmaximierung. CD Projekt RED hat nach "The Witcher" (2007) gewusst, dass es mit der BioWare Aurora Engine nicht dauerhaft weiterarbeiten kann und größere Budgets sich nur rechtfertigen, wenn man sich auch den größeren Konsolenmarkt erschließt. Entsprechend war "The Witcher 2 - Assassins of Kings" das Brückenprodukt, mit dem man sowohl die eigene Engine ans Laufen brachte als auch erste Erfahrungen mit einer Konsole wie der Xbox 360 und Microsoft sammeln konnte.

"The Witcher 3" erntet nun nach zwei Verschiebungen und insgesamt 7 1/2 Jahren die Früchte dieses langwierigen Prozesses und hat sich völlig zu Recht innerhalb von nur zwei Wochen 4.000.000 Mal verkauft. Natürlich gibt es genügend Spielertypen da draußen, die mit einem so laberlastigen Spiel wie "The Witcher 3" mal gar nichts anfangen können. Alle anderen werden jedoch auf unglaublichen Niveau je nach Spielweise und wie von CD Projekt RED versprochen 50 bis 100 Stunden unterhalten. Mein erster Durchlauf dauerte auf dem zweiten als normal bezeichneten Schwierigkeitsgrad etwa 70 Stunden und ich habe insbesondere in der Region Skellige praktisch alle Hexeraufträge und Schatzsuchen ausgelassen.

Mein zweiter Durchlaufauf auf dem viel ansprechenderen 3. Schwierigkeitsgrad, bei dem ich mir dann fast den Komplettisten gegeben habe, brachte es tatsächlich locker auf über 100 Stunden. Wie gewohnt habe ich aus Neugier über die Auswirkungen möglichst gegenteilige Entscheidungen getroffen. Allerdings habe ich den Bogen dabei wohl gerade dort, wo es mehr als nur zwei Möglichkeiten gab, etwas überspannt und bin volle Kanne in ein Ende hineingeschlittert, das mich geradezu depressiv zurückgelassen hat. Aber der dritte Durchgang muss mindestens solange warten, bis die Erweiterung etwa Mitte März 2016 komplett veröffentlicht ist...

"The Witcher 3" ist in der englischen Fassung (bitte nicht auf deutsch spielen) genaugenommen so gut, dass es mein Wertungssystem sprengt. Die Wertung für Grafik habe ich seit 2005 dreimal angepasst. Die Wertung für Handlung und Sound habe ich jedoch seit meiner 2004er Kritik zum schon erwähnten "Deus Ex" nicht verändert. Eine Abwertung insbesondere von "Mass Effect 2" oder "The Last of Us" (2013) scheint mir aber nicht angemessen. Würde ich jetzt global abwerten, könnte ich wahrscheinlich auf Jahre keine Höchstwertung mehr bei Handlung und Sound vergeben.

Update (06/2016): Über die Monate wurde die Spielbarkeit immer weiter verbessert und durch die diverse Änderungen vor allem am Inventar nun im Patch 1.21 hat sich CD Projekt RED endgültig die Aufwertung von 9 auf 10 Punkte verdient.



  POSITIV:
  - unendlich schön
  - unendlich komplex
  - unendlich tief
  - fast unendlich lang


  NEGATIV:
  - evtl. zu laberlastig


Die B-Note:

Als CD Projekt RED bereits am 7. April 2015 - also sechs Wochen vor dem Release des Hauptspiels - ankündigten, dass es zwei kostenpflichtige DLCs geben würde, war das eigentlich ein kleiner Imageschaden für die Polen und lief ihrer Aktion entgegen, mit den 16 kostenlosen DLCs regelmäßig in die Presse zu kommen. Aber das Geld war am Ende durch die zweite Verschiebung wohl so knapp geworden, dass man Imageschaden hin oder her schon jetzt versuchen musste, noch kurzfristig von den Fans eine größere Menge Geld einzusammeln, wollte man sich das Geld nicht stattdessen mit Zinsen bei der Bank leihen.

Ich hatte bereits am 12.06.2014 für "Wild Hunt" bezahlt und auch wenn das Spiel kurz vor der Veröffentlichung bei diversen Präsentationen einen guten Eindruck machte, so wollte ich doch nicht für einen von mir wenig geliebten (Untertreibung des Jahres) Season Pass noch einmal 24,99 € hinlegen, wenn ich das Hauptspiel noch gar nicht selbst gespielt hatte. Da konnten sie das Ding noch so kreativ mit Expansion Pass betiteln und beschwören, dass es sich um Add Ons alter Schule handeln würde, meine Brieftasche blieb damals zu.

Hearts of Stone

Schon früh war bekannt, dass die erste Erweiterung im wesentlichen aus einer großen Questreihe in der bereits bekannten Welt besteht und gut zehn Stunden Umfang hat. Für mich stand vor allen Dingen die Frage im Raum, ob ein paar Stunden mehr bei einem fast perfekten Hauptspiel mit wahlweise 100 Stunden Spieldauer überhaupt Sinn machen. Doch CD Projekt RED wären für mich eben nicht der Entwickler der Stunde, wenn sie nicht den richtigen Ansatz gefunden hätten, indem "Hearts of Stone" den Open World Aspekt etwas zurückfährt und sehr cineastisch ist, ohne auf knackige Kämpfe mit teils neuen Gegnern zu verzichten.

Mit Spielcharakter Geralt erlebt man in den zehn Stunden so viele Sachen, die es so nicht im Hauptspiel gab, dass einem die Ohren schlackern. Im Produkttext auf GOG heißt es: "Geralt wird vom Spiegelhändler (so heißt der nun mal auf Deutsch) angeheuert und erhält den Auftrag, Olgierd von Everec zu besiegen - einen ruchloser Banditenhauptmann, der die Macht der Unsterblichkeit empfangen hat." Das trifft es jetzt nicht im Detail, aber so spoiler ich wenigstens nicht so viel.

Zum ersten, zum zweiten und zum dritten

Ich besuchte etwa ein Auktionshaus der Highsociety, nur um später dann zu versuchen, in eben jenes Auktionshaus einzudringen und in den Tresorraum zu gelangen. Hierfür gilt es eine Bande Einbruchskünstler zusammenzustellen, von denen z. B. sich einer gerade viel lieber selbst als den Safe in die Luft sprengen würde, und später - also das liegt jetzt vielleicht auch daran, dass ich mich bei dem Bruch nicht so super geschickt angestellt habe und alles irgendwie total aus dem Ruder lief - als Geiselnehmer mit dem Diensthabenden über das Fluchtfahrzeug zu verhandeln.

Außerdem bin ich besessen vom toten Bruder Olgierds auf einer Hochzeit aufgetaucht und hatte die ganze Zeit Schiss, dass meine Chancen durch mein seltsam großkotziges Benehmen bei Shani schwinden - richtig, dass ist die aus "The Witcher". Und als es eigentlich nicht mehr cooler werden konnte, bin ich in die traurige Vergangenheit des Ehepaars von Everec gereist, indem ich ein Ölgemälde betreten habe, was mal eben den gesamten Grafikstil komplett durch den Wolf dreht. Der Wahnsinn!!!

Unter der Haube

Obwohl ich zuerst annahm, dass ich mich auf bekannten Terrain bewegen würde, bekam ich also eine ganze Menge wunderschön gestalteter, neuer Umgebungen und Charaktere zu sehen. Aber damit nicht genug: Zusätzlich zu den erwarteten Zugaben wie mehr Schwerter, Rüstungen und Gwintkarten findet man irgendwann, nachdem man unangenehme Bekanntschaft mit Drogenhändlern gemacht hat, einen Bauplan in einer gänzlich fremden Sprache. Und dieser Bauplan führt einen dann unter anderem zu einem Runenschmied aus dem Volk der Ophiri.

Würde der Herr nur irgendwelche Runen zusammenklöppeln, wäre das ziemlich langweilig, aber wer dem Schmied beim Aufbau seines Geschäftes hilft - also bereit ist sich von einem ganzen Patzen Geld zu trennen - der erhält ähnlich wie damals in der seligen Erweiterung "Diablo II: Lord of Destruction" (2001) die Möglichkeit, Waffen und Rüstungen mit drei Sockeln mit Runenwörtern zu versehen, mit denen sich Effekte (z. B. Boni von Rüstungsschmiedetischen und Schleifsteinen sind dauerhaft) auslösen lassen, die es so nirgendwo anders im Spiel gibt.

Blood and Wine

In der zweiten Erweiterung entführt es einen dann zum Abschluss der Serie, immerhin soll dies Geralts letzter großer Auftrag sein, in das vollständig neue Gebiet Toussaint, einem "Land des Sommers, einem vom Krieg unberührtem abgelegenem Tal." Am Ende des Klappentextes heißt es wage: "Blood and Wine verspricht über 20 Stunden Abenteuer, in dem Schönheit auf Horror trifft und Liebe Hand in Hand mit Täschung geht." Wichtig ist auch nur: Wer Komplettist ist, also auch das Gwintturnier durchspielt, hat in "Blood and Wine" tatsächlich gut 35 Stunden zu tun. Wer jedoch das Hauptspiel in etwa 60 Stunden durchgespielt hat, wird vermutlich nach lediglich 20 Stunden den Abspann zu sehen bekommen.

Aber egal welcher Spielertyp man auch ist, man wird bis dahin verdammt gut unterhalten, denn auch wenn es mir persönlich in den Nebenquests etwas zu oft um Wein ging, die Hauptquest hält das Niveau aus "Hearts of Stone", das Ritterturnier ist eine einzige Freude und besonders der etwa 75 Minuten währende Ausflug ins Märchenland ist optisch wie auch inhaltlich einer der schrägsten Momente der Witcher Serie überhaupt. Oder kann es etwas geileres geben, als wenn man sich nach Anwendung des Aard Zeichens mit den drei kleinen Schweinen schlägt oder angegriffen wird, weil man vom Brei gekostet hat?

Unerwartet

Neben vielen Sachen, die ich so oder doch zumindest ganz ähnlich in dem traditionelleren zweiten Add On erwartet hatte, stechen für mich vor allen Dingen zwei heraus: Zum einen baut CD Projekt RED tatsächlich so etwas wie Housing ein, denn Geralt soll sich ja irgendwann endlich zur Ruhe setzen und als Vorschuss erhält er daher von der Herzogin sein eigenes Weingut - gut, das Ding ist jetzt nicht im 1a Zustand und der vorherige Besitzer ist unter nicht so ganz schönen Umständen verstorben, aber wenn solche Geschichten irgendjemanden nichts ausmachen dann doch wohl einem Witcher.

Natürlich kümmere ich mich nicht wirklich um den Weinanbau (oder war ich nur zu doof dafür?) sondern um alles andere, wie etwa dass der Kräutergarten oder das Alchemielabor im Keller wieder hergerichtet wird und das ein paar vernünftige Bilder (am besten von mir) an der Wand hängen und ordentlich Pokale auf dem Sideboard stehen. Abhängig davon, was man im Hauptspiel so getan, gelassen und beschlafen hat, erhält man außerdem Besuch, was jetzt nichts weltbewegendes ist, aber die Spielwelt ein weiteres Mal in der richtigen Art und Weise abrundet.

Erweitertes Charaktersystem

Noch überraschender war für mich allerdings, dass so kurz vor Schluss - nach etwa 85 % der Gesamtspielzeit wenn man "Wild Hunt" und erste Erweiterung zu Grunde legt - noch einmal am Charaktersystem gedreht wurde. Es hätte sicherlich auch gereicht, wenn es anstatt der lediglich zwölf aktiven Fähigkeiten aufgrund des höheren Charakterlevels nun 16 gegeben hätte, aber zusätzlich baut CD Projekt RED mit den Mutationen noch einmal eine Möglichkeit ein, extreme Effekte bzw. Schadensspitzen in bestimmten Kampfsituationen zu erreichen, wenn man bereit ist, den Gegner genau zu studieren.

Wer sich so spät nicht mehr tiefgehend mit Neuerungen beschäftigen möchte, braucht jetzt aber auch nicht in Wut zu verfallen, denn auf den ersten beiden Schwierigkeitsstufen macht man nicht viel falsch, wenn man die erste Mutation entsprechend der Farbe der meisten aktiven Fähigkeiten wählt und ansonsten das Feature komplett ignoriert. Wer es jedoch knackiger mag und spielt, kann hier noch einmal seine Überlebenschancen verbessern. Mein Tipp: Wer beide Erweiterungen hat und der Handlung nicht ganz so strikt folgen will, spielt zunächst die Mutationen in der zweiten Erweiterung frei.

Patch 1.2x

Sowohl "Wild Hunt" als auch die Erweiterungen profitieren enorm von den Änderungen des zusammen mit "Blood and Wine" veröffentlichten Patch, der neben dem üblichen Bugfixing (ja, bei einem Spiel dieser Größe wird auch nach einem Jahr noch gefixt) mal eben 27 wirklich gute Änderungen am Interface vornimmt. Für die Gwintspieler (und die, die es vielleicht doch noch werden wollen) gibt es nun einen Ingame Guide, den man bereits im Startgebiet erwerben kann oder später in Novigrad. Der Guide weist z. B. auf fehlende Karten hin und wo man diese erwerben könnte.

Alle Änderungen aufzuzählen würde jetzt etwas ausufern, aber absolutes Highlight neben der verbesserten Bedienung der Weltkarte ist für mich das viel aufgeräumtere Inventar mit besser lesbaren Icons, das jetzt etwa für Waffen, Rüstungen, Waffenöle, Tränke, Bomben, Alchemie usw. eigene Untergruppen hat, durch die sich rasch navigieren und gesuchtes schnell finden lässt. Und wenn ich mir bei einem Schmied etwas bauen lasse, kann ich nun direkt aus dem Craftingbildschirm fehlende Komponenten kaufen - natürlich nur sofern dieser Handwerker die Waren auch vorrätig hat.

Fazit:

Genau wie das Hauptspiel bietet sowohl "Hearts of Stone" als auch "Blood and Wine" die Möglichkeit sich bei vielen Dingen grundlegend anders zu entscheiden, so dass sich die Tage vermutlich noch ein zweiter Durchlauf mit meinem "das lief jetzt nicht so gut" Komplettisten Geralt anschließen wird. Trotzdem kann ich schon jetzt sagen, dass es derzeit kein anderes Vollpreisspiel gibt, das besser wäre als die beiden Erweiterungen für zusammen 25 €. Viele Spiele kommen ja nicht einmal auf die etwa 35 Stunden Spielzeit, die hier geboten wird.

Natürlich ist der Aufwand für die Erweiterungen bei CD Projekt RED geringer als für das Hauptspiel ausgefallen, das grundsätzliche technische und spielmechanische Fundament war ja bereits gelegt, und daher muss auch niemand so tun, als wenn die Erweiterungen jetzt praktisch verschenkt würden. Verglichen mit anderen Erweiterungen moderner Spiele ist der Aufwand jedoch in jeder Hinsicht immens und geht weit über das hinaus, was etwa zuletzt mal wieder "Assassin's Creed Syndicate" (2015) mit seinem 30 € Seasons Pass mit fünf Stunden Spieldauer so zu bieten hatte - jedenfalls den YouTube Videos nach zu urteilen, die ich zu den Inhalten finden konnte.