MASS EFFECT 2

BioWare

(28.01.2010)

auch veröffentlicht auf
PlayStation 3 und Xbox 360


Wenn ich Wetterfrosch wäre, dann hätte ich längst meinen Job verloren oder wäre von jemanden erschlagen worden, der von einem Schneesturm auf seiner Sonnenliege überrascht wurde. Wenn ich z. B. im Sommer 2008 über "Mass Effect" sage: "Es täte mich extrem überraschen, wenn Teil 2 und 3 irgendwelche konzeptionellen Änderungen mit sich bringen würden", dann ist eigentlich idiotensicher, dass es zu größeren Änderung kommen wird.

Praktisch jeder Aspekt der Spielmechanik hat sich verändert. Mal sind es nur Feinheiten wie beim ohnehin schon wegweisenden Dialogsystem, oftmals wie beim Kampfsystem sind die Veränderungen aber so groß, dass ich erst einmal bewusst umdenken musste. Doch dazu später ein paar mehr Einzelheiten, nur soviel vorweg: Fast jede Änderung ist durchdacht und somit ein großer Schritt nach vorn.

Alles auf Anfang?

Obwohl "Mass Effect 2" immer noch im gleichen Universum spielt, ist es weit davon entfernt ein Aufguss des ersten Teils zu sein. War ich vorher Teil des menschlichen Militärs bzw. der vereinten Exekutive, die mich unterstützte und nur ab und an einen Tritt in den bürokratischen Arsch brauchte, so möchte man nun, nachdem ich nach meinem etwas sehr zeitigem Ableben bereits im Vorspann wieder zusammengeflickt wurde, von meinen "Verschwörungstheorien" nicht länger belästigt werden. Allein die ausschließlich aus dem Verborgenem operierende Cerberusgruppe, denen verschiedene rassistisch motivierte Terrorakte zugeschrieben werden, ist bereit ein Vermögen in mich, mein Team und meine Ausrüstung zu stecken, damit ich der Menschheit den Arsch rette.

Entsprechend besuche ich in "Mass Effect 2" verstärkt Orte, in denen sich niemand danach verzehrt, mir aus reiner Freundlichkeit zu helfen und sich meine Ziele sehr oft nur durch Einschüchterung und Waffengewalt erreichen lassen. Gleiches gilt für mein Team, das ich aus bis zu elf Einzelkämpfern formen muss, von denen die meisten zunächst nicht besonders vertrauenserweckend wirken, sich teils gegenseitig nicht leiden können und im Vergleich zu meinem alten Team psychologisch nicht mal halbwegs stabil wirken.

Frag nicht, woher das Geld kommt...

Das langfristig größte Problem ist jedoch mein Geldgeber Cerberus in Form des Illusive Man, der keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass aus seiner Sicht der Zweck absolut jedes Mittel heiligt - und der Zweck ist nicht nur das Überleben sondern gleich schon mal die Dominanz der Menschheit im Universum. Der Illusive Man gibt sich zwar rational und gemäßigt und zudem vor, mich an der langen Leine zu halten, aber schon bald keimte in mir der Verdacht, dass ich immer nur soviel wie nötig erfahre, um nicht auf dumme (eigene) Gedanken zu kommen.

Schon die Ausgangssituation allein gehört zu den besten Settings, die jemals ein Computerspiel geboten hat, und verweist bekannte Kinderwelten wie "Star Wars" und "Star Trek" auf die Plätze. "Mass Effect 2" geht jedoch noch einen großen Schritt weiter und baut tatsächlich auf den Ereignissen des ersten Teils auf. Wer behauptet, dass man den ersten Teil nicht gespielt haben muss, behauptet sicherlich auch, dass man "Der Herr der Ringe" ab Band 2 "Die zwei Türme" lesen kann. Technisch geht das durchaus, die Seiten lassen sich genauso umblättern. Nur den gleichen Spaß hat man dabei doch wohl kaum...

Nahtlose Fortsetzung

Das Sahnehäubchen ist hierbei die Übernahme des eigenen Charakters aus dem ersten Teil. Bereits früh angekündigt, wird dieses Feature leider oftmals als kosmetisch abgetan, was ich nur verneinen kann. Wenn NPCs sich an das erinnern, was ich früher getan oder gelassen habe, wenn NPCs fehlen oder auftauchen, weil ich sie sterben oder leben gelassen habe, wenn ehemalige Liebhaber, die mich für tot gehalten haben, mich nach zwei Jahren noch einmal umarmen, dann fühlt sich das einfach nur wahnsinnig echt an.

Apropos echt: Noch echter als im Vorgänger wirken die Gesichter der NPCs und der eigenen Spielfigur (besonders Narben sind einfach nur ultrageil). Noch deutlicher hat sich allerdings die Umgebungsgrafik verbessert, die nun Abwechslung ohne Ende bietet und zu keiner Zeit qualitativ nachlässt. Grafisch für mich persönlich jedoch am wichtigsten sind die wesentlich geschmeidigeren Kampfanimationen, die nun zeitgemäß flüssige Übergänge zwischen verschiedenen Bewegungen bieten, und auch die herrlich übertriebenen Effekte, wenn Gegner von Spezialfähigkeiten getroffen werden und dann z. B. vereist wie in Zeitlupe umkippen (saukomisch) oder schreiend meterweit durch die Luft fliegen.

Stark verbessertes Kampfsystem

Da ich gerade schon beim Kampfsystem bin: Die richtige Deckung ist nun wesentlich wichtiger als noch im ersten Teil, denn die eigene Mannschaft ist den Gegnern bezüglich ihrer Nehmerqualitäten und auch beim Schadensoutput nicht mehr so deutlich überlegen. Außerdem werden bestimmte Spezialtalente geblockt bzw. in ihrer Wirkung stark reduziert, solange sich der Gegner mit Schilden oder Barieren schützt oder einfach nur über eine extrem fette Panzerung verfügt. Dies führt dazu, dass während es im Vorgänger oft noch allein mit der Brechstange ging, nun vermehrt der geschickte Einsatz der verschiedenen Spezialfertigkeiten gefragt ist.

Entsprechend der neuen Ausrichtung der Kämpfe wurde konsequent auf die Zahlendrescherei des Vorgängers (von vielen leider häufig als Kern eines Rollenspiels missverstanden) inkl. dem Nervinventar und dem Ausrüstungsmarathon verzichtet, sondern jede der 18 Fähigkeiten (die eigene Spielfigur hat jeweils sieben, die anderen je vier) und 19 Waffen individuell gestaltet. War früher sowieso immer die Waffe mit dem meisten Wumm die beste, entscheiden nun ganz andere Faktoren wie der Rückstoß oder die Wirkung gegen bestimmte Gegner und ihre Verteidiungsmechanismen über den richtigen Waffeneinsatz.

Während Waffen früher überhitzten, müssen diese nunmehr nachgeladen werden. Dies läuft spielmechanisch innerhalb der Kämpfe praktisch auf's Gleiche hinaus, nur zwischen den Kämpfen müssen nun neue Magazine aufgesammelt werden. Dass sich das eigene Team nun shootertypisch in der Deckung heilt, ist genau genommen keine Änderung. Schon im Vorgänger versah man ohnehin jede Rüstung als erstes mit einer Modifikation, die die Lebensenergie wieder auffühlte, um knappes Medigel (Verbandsmaterial) zu sparen. Es wurde also lediglich eine vorgetäuschte Entscheidung entfernt.

Da kann kein Film mithalten!

Eine kleine aber feine Änderung betrifft die Dialoge: Um die Dynamik der Unterhaltungen zu erhöhen, kann man nun an vorgegebenen Stellen die Maus drücken und z. B. somit den Redeschwall des Gegenübers durch einen Kinnhaken vorzeitig unterbrechen oder auch ein Teammitglied davon abhalten, jemanden vorschnell zu exekutieren. Außerdem wählt das Spiel nun wesentlich bessere Kamerawinkel und schneidet dynamisch vermehrt Nahaufnahmen von Mimik und Gestik in die Unterhaltung, so dass aus der Engine heraus praktisch Filmqualität erreicht wird.

Entscheidend für die Ausnahmestellung des Spiels sind aber nach wie vor die Dialogschreiber und die unglaublich guten Sprecher, von denen besonders Michael Beattie in der Rolle des hyperaktiven salarischen Professors Mordin Solus alles in den Schatten stellt, was jemals im Bereich des Animationfilms zu hören war. Wobei wir dann auch schon wieder beim Tipp des Tages wären: Bitte, bitte, bitte spiel nicht auf Deutsch. Besonders die Sprecher des eigenen Charakters scheinen nicht den Hauch einer Ahnung zu haben, in welcher Situation die jeweilige Unterhaltung überhaupt geführt wird und in welcher Beziehung sie zu ihrem Gegenüber stehen.

Während es den meisten Filmen nicht gelingt wenigstens einen wirklich interessanten Charakter aufzubauen, gelingt "Mass Effect 2" dieses Kunststück gleich im Dutzend. Sei es nun die dreifache Mutter, die mich bittet, ihr dabei zu helfen, eines ihrer Kinder zu töten, oder ein Meuchelmörder, der die Aura eines sterbenden Pfarrers hat, oder mein alter Kumpel Garrus, der von Rachegedanken getrieben, kaum noch er selbst ist, oder der bereits erwähnte Professor Solus, der seinen ganz eigenen Beitrag zur Geburtenkontrolle einer ganzen Spezies geleistet hat - die Charaktere sind nur noch fett.

Fazit:

Nicht so sehr fett sondern episch ist die passendste Bezeichnung für dieses BioWare Werk. Der positive Gesamteindruck wird auch von kleinen Fehlern, wie das langweilige und schlecht zu bedienende Resourcensammeln, das Handbuch auf "Negerkampf im Tunnel"-Niveau und der Schwierigkeit zu beurteilen, wann welche Mitstreiter zu weiteren persönlichen Gesprächen bereit sind, kaum geschmählert.

Enorm gefreut hat mich, dass die auf Dauer langweiligen Nebenmissionen aus dem Vorgänger komplett gegen wenige kurze aber interessante Einsätze ausgetauscht wurden. Wer alles mitnimmt, erlebt beim einmaligen Durchspielen knapp 35 Stunden Spielzeit auf höchsten Niveau. Ein weiterer Durchlauf bietet sich allein wegen der Veränderungen durch entgegengesetztes (gutes oder böses) Verhalten an. Und wer die Intensität des Spiels ins Unermessliche steigern will und keinen Wert darauf legt, seinen Charakter später in "Mass Effect 3" importieren zu können, stellt sich schlecht vorbereitet noch einmal der Selbstmordmission am Ende des Spiels und lässt es wahr werden...

Das letzte BioWare Werk "Dragon Age: Origins" (2009) ist spielmechanisch sicherlich das breiter angelegte Spiel, "Mass Effect 2" hat dafür optisch und akustisch die Nase vorn. Dass die beiden Spiele im Abstand von nicht einmal drei Monaten hintereinander veröffentlich wurden, ist ausschließlich der immer seltsameren Produktpolitik von Electronic Arts zu verdanken, die unbedingt "Dragon Age: Origins" im Weihnachtsgeschäft zeitgleich auf PC und Konsolen veröffentlichen wollten, um dann völlig unnötig mit Blendern wie "Call of Duty: Modern Warfare 2" zu kollidieren...

"Mass Effect 2" ist somit die ganz große Empfehlung, zusammen mit der ganz großen Empfehlung vorher unbedingt "Mass Effect" zu spielen - und das am besten gleich zweimal... mindestens...
Mögen noch viele, viele Jahre vergehen, bis BioWare seine Pforten schließt und ausschließlich Browsergames veröffentlicht werden, in denen ich dann für 20 € eine Pudelmütze für meinen Charakter erstehen kann. ;)



  POSITIV:
  - schlägt jeden Film
  - galaktische Sprecher
  - wahnsinnig emotional
  - starke Gefechte


  NEGATIV:
  - ödes Resourcensammeln
  - fehlende Hinweise


Die B-Note:

Nachdem BioWare bei den DLCs zu "Dragon Age: Origins" nicht immer das glücklichste Händchen bewies, habe ich damals lange mit mir gerungen, ob ich für das DLC-Bundle 24,99 € (Stand 09.03.2020) ausgeben sollte. Da der DLC Trend aber ohnehin derzeit nicht aufzuhalten ist, siegte meine Neugier und die damit verbundene Hoffnung, dass die Planung bezüglich der "Mass Effect 2" DLCs bei BioWare so frühzeitig begonnen hat, dass nun vernünftige Happen nachgeschoben werden.

Und tatsächlich: Auch wenn die reine Spielzeit mit jeweils gut einer Stunde für "Kasumi – Stolen Memory", "Overlord" und "Arrival" und etwa zwei Stunden für "Lair of the Shadow Broker" gemessen am Preis doch etwas sehr mager ist, halten alle Erweiterungen die Qualität des Hauptspiels, ohne dabei nur mehr vom Gleichen zu bieten. Ich bin versucht eine generelle Empfehlung an alle, denen Geld egal ist, auszusprechen, gäbe es da nicht einen kleinen Schönheitsfehler: Ganz besonders "Kasumi" und "Overlord" sind vom Schwierigkeitsgrad und der Anzahl der Gegner nicht auf hochstufige Charaktere ausgelegt, im Regelfall wird man aber genau mit einem solchen Charakter lange nach der Veröffentlichung und somit nach dem Storyende des Hauptspiels die Missionen absolvieren. Dieses Manko senkt die Intensität der Einsätze leider etwas.

Hinweis zur PS3 Version:
Die PS3 Version enthält von vornherein die DLCs "Kasumi", "Overlord" und "Shadow Broker", sieht aber schlechter aus. Per Patch wurde der Import der Spielcharakterdaten aus dem erst später veröffentlichten ersten Teil nachgeliefert.