ANTHEM

BioWare

(22.02.2019)

auch veröffentlicht auf
PlayStation 4 und für Windows PCs


In der Hülle von "Anthem" befindet sich ein selten schmuckloser Zettel mit folgendem Text: "Wir von BioWare sehen es als unsere Mission, Welten voller Abenteuer, Konflikte und Kameradschaft zu erschaffen, die dich dazu inspirieren, der Held deiner eigenen Geschichte zu werden. Dies ist deine Einladung, diese neue Welt zu erkunden, ihre Bewohner kennenzulernen, sie mit deinen Freunden zu genießen und viele eigene Geschichten zu schreiben. Anthem ist das Ergebnis vieler Jahre harter Arbeit, Handwerkskunst und Liebe und wir sind ebenso aufgeregt wie dankbar, es dir endlich präsentieren zu könne."

Und weiter: "Wir freuen uns, dass du hier bist und uns auf dieser Reise begleiten wirst. Wir hoffen, dass du hier viele wundervolle Abenteuer finden wirst und dass wir alle gemeinsam viele Jahre zusammen spielen werden."
Jens: Doch so schlimm, ja?
Hardyn: Viele Jahre - das ist mal eine unverhohlene Drohung...
Jens: Die hätten auch schreiben können: "Bitte hasst uns nicht zu sehr, wir tun's auch nie wieder." Komm, lass starten! Ich spüre eine Anspannung der eher unangenehmen Art in mir aufsteigen.

Das Herz des Zorns eindämmen

Nicht besonders überraschend startet "Anthem" erst einmal sehr cineastisch mit einem raschen Wechsel von Cutscenes, in denen eigentliches alles schiefgeht, was schiefgehen kann (kaum das wir in unseren Javelin gestiegen sind, lässt man uns auch schon voll auf die Schnauze fallen), und interaktiven Sequenzen, in denen wir ein Bisschen mit der grundlegenden Steuerung üben dürfen.

Jens: Das nenne ich mal praktisch. Unweit meiner Absturzstelle gibt es ein Reparaturkit, das sich frei von jeder Animation um alle technischen Probleme mit meinem Javelin kümmert. Im Handumdrehen ist der Anzug wieder wie neu. Fragt sich nur, wie mein Körper diesen Absturz überstehen konnte.
Hardyn: Oh nein... lies jetzt bloß nicht die nächste Aufgabe!
Jens: "Auf den Treibstoffkanister schießen..." - Wow, es hat eine Minute gedauert, bis wir mehrere völlig unglaubwürdig platzierte rote Fässer nutzen müssen. Oder können wir hier irgendwo außen rum und wie angekündigt unsere eigene Geschichte schreiben?

Du kriegst den Mund nicht zu!

Dass die Frostbite 3 Engine einfach Felsbrocken durch die Luft wirbelt, um diese dann genau wie unsere Nahkampfwaffe, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, in eben Luft aufzulösen, nun gut, muss irgendwer ja so programmiert haben, aber was dann folgt, ist schockierend unglaubwürdig: Meine Kollegen lassen sich vom widerstandsfähigsten aber eben auch langsamsten Gegner mit den langsamsten Angriffen im Spiel, dem Titan, ohne Not töten bzw. aus der Luft pflücken. Aber zum Glück ist da ja Nebenfigur Haluk, der schießt dem Titan dreimal mit Leichtigkeit in den Rücken und schon ist der platt. Warum die zwei anderen Titanen, die gleich danach auftauchen, den Untergang der Welt bedeuten, und wir ihnen nicht auch einfach dreimal in den Rücken schießen - wer weiß?

Hardyn: Ist das Spiel wirklich von BioWare? Oder habe ich gerade das falsche Spiel gestartet? Vielleicht habe ich ja im Laden die Montagspackung mit der falschen Disc drin erwischt.
Jens: Es kann eben nicht nur gute Einleitungen geben, aber das war jetzt schon speziell. Ich habe aufgepasst wie ein Luchs und trotzdem praktisch nichts von den Sachen verstanden, mit denen ich da eben beworfen wurde. Schauen wir Freelancer im sog. Cataclysm mit dem Namen "Herz des Zorn" regelmäßig vorbei, ist er schon immer da gewesen und muckelt nur gerade rum oder war das eine einmalige Sache?

Geboren, um Beute zu machen

"Anthem" ist nicht besonders subtil darin, ehemaligen BioWare Fans wie Jens und mir beizubringen, dass in einem Always Online Shared World Loot Shooter die Gewichtung von Handlung und Beziehungen zu Beute und Charakterlevel umgekehrt proportional zu einem klassischen Rollenspiel ist. Die omnipräsenten Ladebildschirme tragen Bildunterschriften wie: "Festungen bescheren dir dank erhöhter Droprate mehr Beute und Schatztruhen als andere Aktivitäten." - Und wer will mal raten, was sich in den Schatztruhen befindet? - Ein anderer schöner Hinweis in der Ladepause lautet: "Beim Spielen mit anderen werden Erfahrungspunkte geteilt. So kannst du deinen Level schneller steigern."

Jens: Genau! Wer sein Essen immer brav teilt, wird schneller satt. *waaahahaha!*
Hardyn: Ich hätte mir ja mehr Text gewünscht, damit ich die ganze Ladepause über was zu lesen habe. Aber verlieren wir deswegen jetzt bloß nicht diese ungeheuer komplexe Fetchquest aus den Augen: Siehst Du die kleinen Irrlichter? Das sind Echos. Davon kannst Du bis zu drei tragen und dann zu dem - erm - Gebilde in der Mitte bringen. Sonst entstehen hier nämlich bestimmt bis in alle Ewigkeit Eiswölfe weiter aus dem Nichts und wir bekommen Fort Tarsis nie zu sehen.

Ich will fort aus dem Fort!

Einen Ladebildschirm ("Säure senkt gegnerische Widerstände, macht sie [sie??? etwa die Widerstände???] verletzlicher für Schäden und anfälliger für Kombos") und dreimal Augenreiben später...
Hardyn: Puh! - Dann war das 2017 auf der E3 wohl eine reine CGI Sequenz und nicht besonders repräsentativ...
Jens: Ich weiß jetzt nicht, wie es Dir gerade geht, aber ich wünschte, ich hätte das echte Fort Tarsis nie gesehen. Hier gibt es nur Grüppchen spärlich animierter Leute, die ganz überwiegend Tag und Nacht an ihrem Platz verweilen. - Hörst Du das?
Hardyn: Ich hör gar nichts! Ich mach mal lauter...
Jens: Genau das meine ich ja. - Diese Stille! - Die Leute hier unterhalten sich augenscheinlich, aber ich kann die meisten gar nicht belauschen. Man hört nichts außer Gemurmel. Ich ruf mal bei Lieferando an und bestell uns etwas Atmosphäre nach.
Hardyn: Ey, Scheiße, bestell auch gleich eine Kurpackung Gesichtsanimationen mit. Das ist jetzt der dritte von drei NPCs, der entweder partielle Kinderlähmung hat oder dem gerade Botox verabreicht wurde. Die hatten die Frostbite Engine in "Mass Effect: Andromeda" (2017) doch schon eine Ecke weiter. Was ist hier los?

Jens: Während wir wahrscheinlich vergebens auf die Lieferung warten, können wir ja heiteres Beruferaten spielen. Was tun die zwei dort, die in die Knie gehen, einen offensichtlich leeren Regalplatz angucken, eine Notiz machen, sich hinstellen... und wieder in die Knie gehen, Platz angucken, Notiz... und schon wieder von vorn...
Hardyn: Seit "Dragon Age: Inquisition" (2014) gehen mir die lethargischen bis abgrundtief schwachsinnigen NPCs, mit denen keine sinnvolle Interaktion möglich ist, und die die gesamte Spieldauer über in einer 15 Sekunden Schleife gefangen sind, gelinde gesagt auf den Sack, aber hier auf allerengsten Raum im einzigen Hub des Spiels - das geht gar nicht!!!
Jens: Wenn ich es auch nach so vielen Jahren immer noch nicht besser hinkriege, würde ich die meisten NPCs wenigstens weglassen. Ich steh ja auch nicht den ganzen Tag irgendwo dumm rum. In der Welt passiert sonst was, aber der Verkäufer diskutiert trotzdem über die ganze Spielzeit mit dem gleichen Käufer.

Krypter kommt von kryptisch

Ganz weggelassen hätte BioWare auch mal besser den Versuch, sich für Gegenstände, Berufe bzw. Funktionen und Fraktionen schmissige Namen (oder wie meine Kollegin Naomi sagen würde: fancy names) und erklärende Texte auszudenken und nicht nur mich als Spieler sondern auch sich selbst am Ende gleich mit zu verwirren. Was zur Hölle sind ungewöhnliche Universalkomponenten? Wer hätte hinter dem Begriff Regulatoren denn Schmuggler und hinter Arkanisten simple Forscher vermutet? Warum nennt man Krypter nicht einfach Telepathen, wenn es genau das ist, worauf es bei den Jungs und Mädels ankommt?

Hardyn: Die Nummer mit den Kryptern ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch in "Anthem" etwas ähnliches wie die Biotiker in "Mass Effect" oder die Magier in "Dragon Age" zu etablieren - und die Nummer geht mächtig in die Hose. Ihr müsst Jens kurz entschuldigen, aber seit er gelesen hat, dass Krypter zu "gehobenen mentalen Berechnungen" fähig sind, windet er sich vor Lachen hier unter meinem Kaffeetisch. BioWare kommt jedenfalls ständig zwischen Funk und Telepathie durcheinander, obwohl sowieso immer beides gleichzeitig funktioniert oder beides ausfällt, und worin der große Nutzen der Krypter bestehen soll, wenn sie bevorzugt wahnsinnig werden, wenn sie die Hymne (Anthem) der Schöpfung hören, erschließt sich mir auch nach Stunden nicht.

Ständig wird von Städten geredet, die wir nie zu sehen bekommen. Irgendein NPC sagt, er möchte nicht in einer Diktatur wie dem Dominion leben, aber tun wir das nicht, wenn der Eid der Sentinels, die überall in Fort Tarsis rumstehen, lautet: "Wir schützen das Königshaus von Bastion und all seine Untertanen." Genauso wenig erschließt sich uns, wer unsere Spielfigur ist, denn die Definition von Freelancer ist schlicht unabhängiger Lancer. Und wie konnten wir als lose Gruppe der Freelancer (freie Söldner) das Vertrauen der Menschen verlieren, nur weil wir einmal eine Stadt nicht beschützen konnten, wo doch die Sentinels die offiziellen "Ordnungshüter" sind. Aber zum Glück kann "Anthem" wenigstens einen Preis erringen: Holzkopf Baumfaust ist nicht mehr der schlechteste Bossname. Einen humanoiden Bösewicht "Monitor" zu nennen, ist eindeutig noch eine Schippe blöder. Wir hätten zu gern gewusst, welche anderen Namen im Rennen waren. Telefon?

Der Feind in meinem Bett

BioWare hat in der Vergangenheit mehrmals passgenaue eigene Engines für seine Spiele entwickelt wie etwa die Aurora Engine, die über Jahre hinweg von anderen Studios lizenziert wurde, und mit "Mass Effect 2" (2010) eines der schönsten Spiele der Unreal Engine 3 abgeliefert. Publisher Electronic Arts (EA) schreibt aber seinen eigenen Studios seit einigen Jahren zwingend vor, für interne Entwicklungen die Frostbite Engine zu verwenden. Nun musste BioWare zum dritten Mal Frostbite verwenden und zum dritten Mal zeigt sich, dass Frostbite ganz hervorragend "Battlefield" kann, aber alles andere nicht so gut.

Jens: Manchmal habe ich das Gefühl, dass heutzutage nichts wichtiger ist, als sich das Label "Open World" anheften zu können, aber in "Anthem" sehe ich nun erneut, dass Open World und Frostbite nicht zusammengeht. Nach jeder Quest muss ich zurück nach Fort Tarsis (Ladebildschirm), um dort die nächste Aufgabe auszuwählen, nur damit die angebliche Open World anschließend in der Version der neuen Quest geladen wird. Totaler Humbug!
Hardyn: Diese Tatsache, die mangelhaften Gesichtsanimationen, dass meine eigene Figur in den Dialogen nicht zu sehen ist, und das gesamte Design, aus dem mein Javelin wie ein Fremdkörper heraussticht, zeigen überdeutlich, dass "Anthem" eine Parallelentwicklung zu "Mass Effect: Andromeda" ist und technisch ebenso auf "Dragon Age: Inquisition" basiert.

Jens: Schnell fiel mir auch auf, dass die Grafik nur schön ist, wenn ich mich schnell genug und in luftigen Höhen durch die Spielwelt bewege. Schwebe ich flach und langsam ein, bekomme ich das ganz große Aufploppfest geliefert. Irgendwo zwischen fünf und zehn Detailstufen werden inkl. Schattenwurf alle paar Meter erneuert, was dann wie ein Zeitraffereffekt wirkt.
Hardyn: Wer einmal kreuz und quer in seinem Javelin über die Spielwelt fliegen möchte, merkt außerdem auch recht bald, dass die Welt in als Täler getarnte Waben zerhackt wurde, damit sich die Engine nicht mit zu viel Inhalten auf einmal auseinandersetzen muss. Und als nächstes kommt dann die Erkenntnis, dass es bis auf ein paar lauschige Momente vor tiefstehender Sonne sehr wenig in der Welt zu sehen gibt.

Loot hat hier keinen Fokus

Trotzdem hätte "Anthem" ja wenigstens als Loot Shooter funktionieren können, aber "Anthem" schafft es weder mit der Story noch mit dem Loot, einen in die Quests zu locken.
Jens: Wo ich bei einem "Diablo" nach jedem Kampf mein Inventar öffne, um zu sehen, was ich Feines bekommen habe oder schon beim "Pling" mit dem goldenen Leuchten sehe, ob da was Geiles liegt und ob es mir evtl. ein DPS mehr bringt, zeigt mir ein "Anthem" erst nach Ablauf einer Mission bei Rückkehr zum Fort an, was es Mageres gab. Die Spannung bei neuem Loot und die eher seltene Freude darüber ist also immer nur ein kleiner, unnötig komprimierter Moment.
Hardyn: Entsprechend klein ist die Vorfreude zu einem erlegten Zwischenboss zu rennen. Denn ich kann ja eben nicht schauen, was er Feines fallengelassen hat. Ich kann es eben nicht ggf. direkt ausrüsten, um mich schon im nächsten Scharmützel daran zu erfreuen.

Jens: Wo ich bei einem "The Division" (2016) immer mal zwischen der neuen und der alten Waffe wechsle, um zu schauen, welche mir besser liegt, muss ich mich bei Anthem immer entscheiden, was ich will, bevor ich das Fort verlasse. Dadurch habe ich ja auch gar keinen direkten Bezug zwischen Aufgabe und Belohnung. Und das Verhältnis von Loot zu Spielzeit passt auch nicht.
Hardyn: Zwar kann ich verstehen, dass BioWare nicht wollte, dass einer von vier Spielern immer ins Inventar schaut, aber dann hätte man eben weniger mit Drops und stattdessen mehr mit Questbelohnungen arbeiten sollen. Es fehlt auch schlicht am individuellen Loot. Es gibt pro Javelin nur etwa 20 Waffen, die lediglich im Level steigen, sowie ein paar mehr unspektakuläre Komponenten. Und auf den anderen drei Slots, die gleichbedeutend mit den individuellen Fähigkeiten des Javelin sind, sieht es sogar noch magerer aus, mit zweimal fünf und sogar nur zwei Varianten für die Stärkungsausrüstung.

Das endlose Elend

Um das größte Problem von "Anthem" in vollem Umfang zu begreifen, braucht es viele Stunden, denn es ist das obereinfältigste, extremst repetitive Missionsdesign. Über 95 % des Spiels besteht darin, sich mit Massen von Gegnern, die vorzugsweise aus dem Nichts erscheinen, innerhalb eines kleinen Areals zu balgen und oft als Zugabe entweder Echos oder Reliktfragmente einzusammeln, fluoreszierende Runen an Wänden zu berühren oder sich direkt neben einem Häufchen was auch immer zu halten, damit ein Timer vollläuft. Taktik ist dabei nicht gefragt: Man rennt blind rum und ballert auf alles, was sich bewegt, ohne jeden Sinn und Verstand. Die KI ist strunzdumm. Mal rennt etwa ein Eiswolf an uns vorbei, dann bleibt er einfach stehen und ignoriert uns eine Weile - während wir ihn seelenruhig mit Blei füllen!!!

Jens: "World of Warcraft" (2005) hatte bereits zum Start bessere Quests und Kämpfe an Bord als diesen Schrott hier. Die Grenze meiner Leidensfähigkeit ist nach zehn Stunden echt erreicht. Einfach mal den Schwierigkeitsgrad zu ändern, geht auch nicht, weil der Sprung von "Normal" zu "Schwer" so groß ist, dass ich nur noch abnippel, und frühere Missionen wiederholen darf ich bei "Anthem" auch nicht.
Hardyn: Der Screenshot der Karte stammt aus einer Mission der Sorte "zusätzlich Reliktfragmente einsammeln". Wir sind sechs Mal zwischen dem Relikt und den Fragmenten etwas südwestlich davon hin und her gependelt. Dabei haben wir weder auf die Gegner noch die Umgebung geachtet, sondern ausschließlich auf den Detektor geschaut (oben ins Bild reinkopiert). Die Aufgabe hätte jeder Mehlwurm erledigen können.
Jens: Nicht nur einmal beschlich uns das Gefühl, dass BioWare ausgewürfelt hat, gegen welchen der drei humanoiden Gegner wir als nächstes antreten müssen - ja, wir wissen, Skars sind keine Humanoiden, verhalten sich spieltechnisch aber so.
Hardyn: Und wenn es selbst BioWare zu abwegig erschien, uns noch mehr Humanoide vor die Flinte zu werfen, gab's zur "Abwechslung" eine Dröhnung endlos Eiswölfe oder Riesenskorpione.

Das dicke Ende

Jens: Der Aufhänger für das ganze Gemetzel ist meistens extrem banal. Etwa, dass ich Leute aus Fort Tarsis suchen bzw. retten muss, die augenscheinlich doch nur zu dem Zweck in die Wildnis gegangen sind, um zu sterben. Niemand von ihnen ist jemals adäquat ausgerüstet oder wenigstens in einer Mannschaftsstärke unterwegs, in der auch nur die allergeringste Chance bestanden hätte, die jeweilige Mission tatsächlich zu erledigen.
Hardyn: Wie Nichtschwimmer, die sich mitten auf dem Ozean während eines Sturms von ihrem Schiff ins Wasser stürzen.
Jens: Es dauert eine ganze Weile, bis endlich mal ein größerer Gegner ausgepackt wird, aber insbesondere beim Titan aus der Einleitung, war die Freude darüber sehr schnell wieder verflogen. Wenn wir nur einigermaßen aufpassen, kann uns der Titan nämlich nicht gefährlich werden - wir ihm aber auch kaum. Und so ballern wir minutenlang völlig stupide mit allem, was wir haben, auf ihn ein und können nur hoffen, dass uns die Munition nicht vorher ausgeht.
Hardyn: Im letzten Drittel der Story entwickelt sich der Titan und der Ursix zu den beliebtesten Spielzeitstreckern und begegnen uns in zwei Missionen sogar gleich viermal. Das war der Moment, wo ich echt dachte, jetzt werfe ich hin.

Hardyns Fazit:

Auf der offiziellen Website steht der Satz: "Bevor ihre Arbeit abgeschlossen war, verschwanden die Götter und hinterließen eine unvollendete Welt." Nun sind BioWare keine Götter und noch ist das Studio nicht geschlossen, aber "Anthem" ist im höchsten Maße unvollendet. Und ich meine wirklich unvollendet, denn das Spiel ließ anfangs insbesondere die PS4 Konsole (!!!) so hart abstürzen, dass die Spieler Angst um ihre Hardware bekamen. Dazu schrägste Bugs wie etwa, dass die stärkste Waffe im Spiel die Startwaffe ist oder dass ich mehr Schaden mache, wenn ich weniger Sachen ausrüste. - Wer verstehen will, wie einem derart erfahrenem Studio dies passieren kann, muss den Besitzer und Publisher EA verstehen.

EA ist nämlich ein börsennotiertes Unternehmen, in dem sich viele auf Marketing und Monetarisierung verstehen, aber vom kreativen Schöpfungsprozess keine Ahnung mehr haben. Und vor allen Dingen ist EA davon überzeugt, dass es für den Aktienkurs besser ist, ein offensichtlich unfertiges Spiel noch im Fiskaljahr 2018 - endet mit dem 31.03.2019 - zu veröffentlichen als ein vollendetes ein halbes Jahr später. Wer glaubt, ich schwafel Blödsinn, kann's hier nachlesen. Andrew Wilson, Chief Executive von EA, sagte: "The decision to move "Anthem" to a later date was a scheduling matter […] the date is chosen by portfolio balance, not product readiness." Das Lustige dabei ist, dass er am Ende nicht mal gelogen hat, denn "Anthem" besitzt ja weiterhin keine "product readiness".

Der jahrelange Kampf mit der Frostbite Engine und die damit einhergehende stetige Verunsicherung, was tatsächlich umgesetzt werden kann, hat erneut zu viel Zeit und Ressourcen gefressen. Und als Anfang 2018 offensichtlich wurde, dass es mit "Anthem" und dem perfekten Weihnachtsgeschäft 2018 nichts mehr werden würde, musste kurzfristig DICE mit "Battlefield V" (20.11.2018) in die Bresche springen, was nun auch keinen guten Stand bei den Fans der Serie hat - aber BioWare machte sich Hoffnungen, nun genügend Zeit zu bekommen. Ich kann mir vorstellen, dass EA vielleicht sogar tatsächlich über seinen Schatten bzw. das Fiskaljahr gesprungen wäre, wenn Ubisoft im Mai 2018 nicht bekannt gegeben hätte, den großen und etablierteren Konkurrenten "The Division 2" spätestens im April 2019 zu veröffentlichen.

Wie muss der Busch nach dieser Nachricht bei BioWare gebrannt haben! Die Handlung lag noch in Trümmern. Keiner wusste, was zwingend als Rendersequenz umgesetzt werden muss und wo man die emotionalen Schwerpunkte setzen will. Herausgekommen ist ein wirrer Anfang, ein megaplattes und letztlich sinnfreies Dialogsystem und ein auffallend besseres letztes Drittel - in der Not entwickelt man die Geschichte halt vom Ende her. Von den Gegnern hatte man bisher nur eine handvoll ausgearbeitet. Es blieb nur noch Zeit das Dominion, die Gesetzlosen, die Eiswölfe und die Riesenskorpione völlig generisch hinterher zu schießen und zu hoffen, dass die Spieler die Gegner töten, bevor die Gegner KI mal wieder abkackt.

Tja, und dann gibt es da noch die weiterhin größte Baustelle: Das Missionsdesign. Je abwechslungsreicher und komplexer man Aufgaben gestaltet, desto länger und aufwendiger muss man testen, ob die jeweilige Mission tatsächlich abgeschlossen werden kann. Wenn einem jedoch die Zeit davonläuft, bleibt nichts anderes übrig, als nur die paar Routinen zu verwenden, die in 99,9 % der Fälle sauber durchlaufen. Was dann bei den beiden Rätseln, die es ins Spiel geschafft haben, dazu geführt hat, dass sie die Intelligenz eines 10jährigen beleidigen. Immer wieder das Gleiche zu tun, fühlt sich mit jeder weiteren Stunde mehr an wie Akkordarbeit, insbesondere wenn einen der Loot kaum bis gar nicht interessiert, und das Gefühl wird auch nicht viel besser, wenn man die Arbeit mit weiteren Mitarbeitern, Pardon, Mitspielern erledigt, wobei mit der Shared World ja eben genau dieses Grundproblem von vornherein kaschiert werden sollte.

Ich habe mich so viele Stunden durch "Anthem" geschleppt, bis sich nun nur noch die gleichen sechs generischen Quests wiederholen, und das Ergebnis ist ziemlich klar: Das Jahr ist noch jung, aber mit "Anthem" habe ich garantiert die größte Enttäuschung des Jahres schon gespielt, weil das Spiel schon nach fünf Stunden langweilt und nach 25 Stunden immer noch genauso langweilt. Ob es das jetzt endgültig für BioWare war oder man bei "Dragon Age 4: The Dread Wolf Rises" (vermuteter Titel) noch einmal die gleichen Fehler begehen darf, wird sich noch zeigen müssen, aber wenn EA in einer Sache mehr Erfahrung hat als alle anderen Publisher, dann ist es die Schließung eines Studios.

Jens' Watsche:

In meinem letzten Fazit zu "The Order: 1886" (2015) habe ich ja angemerkt, dass man Feedback immer mit etwas positivem starten sollte, aber so gern ich das tun würde, mir fällt nichts ein. Bezeichnend dafür ist der Moment, als Hardyn und ich nach den ersten rund zehn Stunden Spiel zusammensaßen und überlegt haben, was bietet uns denn "Anthem" auf der Plusseite? Traurigerweise kamen wir nach vielem Nachdenken nur auf: "Der Sound ist nicht völlig daneben." Also, nehmt's mir nicht übel, aber es geht nicht anders. Mein Fazit muss ohne Plusseite auskommen.

Hier zunächst einmal in Kurzfassung, was das Spiel für mich disqualifiziert:

  1. Anthem ist nicht mal im Ansatz ein Rollenspiel.
  2. Die Kämpfe sind einfach keine Herausforderung.
  3. Das Lootsystem motiviert nicht.
  4. Es lohnt sich nicht durch die Welt zu streifen - weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen!

Ich weiß noch genau, wie wir gerätselt haben, als die ersten Informationen und Interviews aufkamen, was "Anthem" denn eigentlich genau sein möchte. Einfacher Loot Shooter oder doch eher Rollenspiel. Nun nach dem Spielen bin ich mir nicht sicher, ob BioWare selbst überhaupt wusste, was "Anthem" sein soll, denn niemand würde auf die Idee kommen, "Anthem" auch nur einen Hauch Rollenspiel zu attestieren.

Klar, ich darf am Anfang wählen, ob ich männlich oder weiblich sein will und mir dann sogar ein Gesicht (aus x Vorlagen) aussuchen, aber das ist auch nur ein stümperhafter Versuch die Fassade eines Rollenspiels zu wahren. Denn wir bekommen unsere Spielfigur eh nur im Javelin zu sehen. Und der ist geschlechtslos und blickdicht. - Und so zieht es sich durch das ganze Spiel.

Es werden Elemente, die ein Rollenspiel ausmachen können, aufgegriffen, ausgehöhlt und eben als Fassade ins Spiel gebracht. Klar, ich darf manchmal in Gesprächen zwischen zwei Antworten wählen, aber diese haben einfach keine Auswirkungen. Klar, im Hub lümmeln meine "Begleiter" rum, aber eine Interaktion mit diesen ist bis auf "gib mir 'ne Quest" nicht vorhanden. Davon eine Beziehung aufzubauen, egal ob freundschaftlich oder romantisch, ganz zu schweigen. Im besten Fall sind die Charaktere ganz witzig aber meistens hohl und eindimensional. Dazu eine lieblos und ohne jeden Sinn für gescheites Storytelling zusammengeschusterte Handlung und unfassbar repetitive Quests.

Um das Gesamtbild perfekt zu machen, hat BioWare kurz vor Release die Skilltrees der Piloten gestrichen, sonst wär's ja evtl. doch noch in Richtung RPG gegangen - aber das wurde so gekonnt verhindert! Und da sich die paar "Alibirollenspielememente" auch nur auf den Hub beziehen, sind sie eh nur Nebensache. Die meiste Zeit verbringe ich schließlich in meinem Javelin und habe auch keinen Ansporn, das zu ändern. Da kommt natürlich die Frage auf: Ist "Anthem" denn (wenn schon kein Rollenspiel) eventuell ein guter Loot Shooter? Aber auch hier will das Spiel überhaupt nicht zünden.

Woran liegt das? Nun, zum einen ist das Kampfsystem einfach plump. Insbesondere als Colossus steh ich auf dem normalen Schwierigkeitsgrad schlicht ohne Deckung umzingelt in der Gegend und hab keine Angst um mein Leben. Im Notfall kommt ein Nahkampfangriff und alles um mich herum ist hin. Selbst wenn die dicken Gegner mit Schild kommen, ein paar Scharfschützen mitbringen und dazu noch Sucherminen werfende Skars mit zum Tanz eingeladen haben, komme ich selten in die Situation mal eine andere Herangehensweise zu versuchen.

Dazu eine KI, die diesen Namen nicht verdient. Wären die Gegner auch nur ein bisschen klüger, müsste ich ständig die Stellung wechseln, mich in Deckung begeben, gezielt die störendsten Gegner umhauen. DAS wäre doch mal was! - Stattdessen steh ich da und warte, was mir vor die Flinte springt, und sehe zu, wie einer meiner Feinde einfach ohne Not an mir vorbei von meiner linken zu meiner rechten Seite läuft und dabei ignoriert, dass er mit Blei vollgepumpt wird.

Zum anderen ist die Loot-Hatz weder motivierend noch genug im Fokus. Die große zeitliche Lücke zwischen der Herausforderung und der Belohnung sorgt dafür, dass man den Loot nur nebensächlich wahrnimmt. Dabei sollte er doch in einem Loot (!!!) Shooter einer der zentralen Aspekte sein. Für mich hat sich nie dieser klassische Moment eingestellt, in dem ich mich darauf freue, meinen Loot zu durchforsten, ob ich was habe, was mich weiterbringt. Loot war halt da, wurde angelegt und weiter geht's. Nichts von "Yeah! Wieder ein DPS mehr! Jetzt schnapp ich mir die dicken Gegner!"

Tja, bleibt noch die "offene" Spielwelt: So etwas Leeres und Unfertiges habe ich lange nicht gesehen. Nichts hier wirkt dynamisch, nichts hier entdecke ich zufällig. Es ploppt eine Meldung auf, ich fliege zum Zielort, ballere Gegner weg, die dort eigentlich nichts Böses tun, außer eben da zu sein, und fliege weiter. Die Gegner töten vielleicht 50 von meinen Leuten, ich töte über 2.000 von ihnen...

Zusammengefasst: Ich wüsste beim besten Willen nicht, warum man "Anthem" gut finden sollte, und bin entsetzt darüber, wie lieblos und vorschnell dieses Spiel auf den Markt gekommen ist. Hier ist rein gar nichts fertig! BioWare erfüllt seine eigenen Ankündigungen ("Die Neuerfindung persönlicher Geschichten in einem Multiplayer-Spiel") nicht ansatzweise und versucht es in meinen Augen nicht einmal.

Wenn ich jetzt sehe, dass BioWare sich hinstellt und sagt: "Najaaaa, Freunde, das bleibt ja nicht so, wir arbeiten doch im Hintergrund weiter", dann wird mir richtig schlecht. Und wenn ich dann auch noch in Foren lese, dass diese Handhabung - ein Vollpreisspiel zu veröffentlichen, ohne dass es fertig ist, mit dem angeblichen Ziel es irgendwann in der Zukunft dann mal zu vollenden - offensichtlich auch von großen Teilen der Spielerschaft toleriert oder sogar verteidigt wird, weil wer vom Marketing so schlau war, es "game as a service" zu nennen, dann kotz ich wirklich im Strahl.

In meinen Augen gehört so ein Geschäftsgebaren knallhart von der Kundenseite abgestraft.



  POSITIV:
  - Steuerung funktioniert


  NEGATIV:
  - unfertiges Spiel
  - mieses Storytelling
  - Pseudo RPG Elemente
  - Quests maßlos repetitiv
  - plumpes Kampfsystem
  - Lootsystem motiviert nicht