VAMPYR

Dontnod Entertainment

(05.06.2018)

auch veröffentlicht auf
PlayStation 4 und für Windows PCs


Warum habe ich mir ausgerechnet "Vampyr" von Dontnod gekauft, wenn ich die beiden anderen Titel des Studios - den Flop "Remember Me" (2013) und den Überraschungshit "Life Is Strange" (2015) - jeweils nur für wenige Minuten gespielt habe? Weil "Vampyr" bereits auf dem allerersten Screenshot wesentlich düsterer wirkte und weil ich gespannt war, ob das Spiel am Ende mehr aus einem ganz ähnlichem London machen würde als der Oberblender "The Order: 1886" (2015) oder das mit zwei hochgradig unglaubwürdigen Hauptcharakteren gesegnete "Assassin's Creed Syndicate" (2015).

Wenn Unbekannte Dich hassen!

Ein handlungsorientiertes Spiel in einer halbwegs glaubwürdigen Spielumgebung hat regelmäßig einen ganz wunden Punkt: Der unterschiedliche Wissensstand meiner Spielfigur und mir als Spieler (Negativbeispiel: "Deus Ex - Human Revolution" (2011)), deshalb leiden auch so viele Helden in ihrem ersten Abenteuer an irgendeiner Art von Gedächtnisschwund. "Vampyr" hat hier eine geniale wie brachiale Lösung: Mein Alter Ego Dr. Jonathan Reid ist gerade nach dem ersten Weltkrieg aus seinem Dienst als Militärarzt von Frankreich nach London zurückgekehrt - und wacht plötzlich in einem Massengrab mit ganz schrecklichem Durst auf...

Noch bevor Jonathan einsehen kann, dass er ein Vampir ist, sind sich die Vampirjäger ihrer Sache ganz sicher, die die Straßen im Stadtteil Southwark patrouillieren. Heilige Scheiße, was ist denn hier in London passiert? Dass die zweite Welle der spanischen Grippe wütet, täglich dutzende Menschenleben fordert und das öffentliche Leben vielerorts zusammengebrochen ist, okay, sicherlich nicht schön jedoch nachvollziehbar, aber was hat eine größere Anzahl anscheinend gut organisierte Fanatiker veranlasst Vampire zu jagen, wieso gibt es überhaupt Vampire und warum zum Henker bin ausgerechnet ich bzw. Jonathan auf einmal ein Vampir?

Auf der Flucht vor der Morgensonne, die mir die Haut verbrennt, kann ich mit Mühe und Not soviel Abstand zu meinen Verfolgern rausholen, dass ich ungesehen in ein verlassenes Haus schlüpfen kann. Wobei verlassen trifft es nicht ganz, aber die Bewohner sind zumindest tot und daher kein akutes Problem. Nun heißt es runterkommen, Informationen sammeln und nachdenken. Als Arzt bin ich ein rationaler Mensch, es muss eine rationale Erklärung für das alles geben. Die Nummer, die hier abläuft, lässt nur einen Schluss zu: Wenn ich nicht innerhalb kürzester Zeit unrettbar wahnsinnig geworden bin, ist dies ein Alptraum - und aus Alpträumen erwacht man bekanntlich, indem man stirbt.

Und bäng!

Also lege ich mich auf ein Bett und schieße mir selbst durchs Herz - nur um ein paar Stunden später geheilt wieder hochzuschrecken. Egal wie irre ich bin, das hätte ich nicht überleben dürfen... also muss die Stimme in meinem Kopf von meinem Schöpfer stammen, und wenn ich ihn finde, bekomme ich vielleicht ein paar Antworten. Wie sich jeder vorstellen kann, ist das nicht ganz so einfach wie seinen entlaufenden Hund zu finden, denn während ich jeden Passanten fragen kann, ob er meinen Hund gesehen hat, würde die Frage: "Hast Du meinen Vampir gesehen", die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrufen aber vermutlich nie die gewünschte.

Hinzukommt, dass mein Schöpfer entweder ein eher gestörtes Verhältnis zu mir haben muss oder ungeheuer in Eile war, wenn er mich einfach (un)tot auf der Straße zurücklässt, was dazu führt, dass ich zwar als Vampir wachsende übernatürlichen Fähigkeiten habe, aber ansonsten zunächst wesentlich verunsicherter in meinem neuen "Leben" bin als ich dies als Mensch war. "Vampyr" überträgt dieses Gefühl geschickt auf mich als Spieler, indem ich anfangs keine Möglichkeit habe, meine Fähigkeiten einzuschätzen oder auch die Reaktionen meiner Umwelt auf mich und mir auch bereits in den ersten Stunden knackige Kämpfe vorsetzt.

Der Inschinör hat's schwör...

Zum Glück muss ich mich als Jonathan nicht auf meine angestammten Kräfte verlassen, sondern wie sich das für ein richtiges Rollenspiel gehört kann ich nach eigenem Gutdünken acht passive Fähigkeiten steigern und bis zu elf aktive Fähigkeiten erlernen und in zwei Alternativen ausbauen, wobei ich zwar nur fünf gleichzeitig im Kampf einsetzen kann, aber genauso wie die Waffen vor jedem Kampf wechseln könnte. Hinzukommt ein einfaches Craftingsystem, um etwa Medizin für die Bewohner herzustellen oder eher traditionelle Waffen wie Schlag-, Stich- und Schusswaffen zu verbessern, wobei das System im positiven Sinne an das mit ebenfalls überschaubarem Umfang aus "The Last of Us" (2013) erinnert.

Ein witziger Schachzug besteht darin, dass Dontnod in "Vampyr" überproportional viele Erfahrungspunkte für das Aussagen von normalen Bewohnern Londons vergibt - also sozusagen für die böse Spielweise. Zwar fehlen mir, wenn ich meinen Blutdurst überhaupt nicht eindämme, dann die Punkte aus den Nebenquests, die mit manchen Figuren verbunden sind, trotzdem stehe ich mit einem Plus von fast 50 % da. Auf diese Weise kann ich einerseits den Schwierigkeitsgrad selbst nachjustieren und andererseits ist die Versuchung noch ein Bisschen größer, mich als Tyrann aufzuspielen.

Allerdings muss ich sagen, dass die Dialoge in "Vampyr" kleine Ungereimtheiten aufweisen, wenn ich jeden Zivilisten bei erstbester Gelegenheit töte. Da Dontnod vermutlich nicht über die Ressourcen verfügt, hunderte von Varianten im Handlungsverlauf entsprechend dem exakten Zeitpunkt meiner Morde umzusetzen, entfernt das Spiel mit jedem Toten nur einen möglichst kleine Happen aus der Handlung. Dies zeigt sich etwa, wenn man den ersten Zivilisten aus der Kanalisation nahe des Hospitals rettet und sofort aussaugt, aber keine zehn Minuten später relativ gut informiert mit seinem gleichgeschlechtlichen Partner reden kann.

Gammaregler nach unten

"Vampyr" hat optisch ein großes Problem zu lösen gehabt: Anders als in "The Order : 1886" und "AC Syndicate" ist es fast immer Nacht und Vampire können besser im Dunkeln sehen als normale Menschen. Den Spieler aber permanent mit einer wie auch immer gearteten Nachtsicht - letztlich Fehlsicht - herumlaufen zu lassen, hätte sicherlich wenig Anhänger gefunden. 1918 gibt es zwar elektrisches Licht, aber eben längst nicht in der heutigen Qualität und schon gar nicht in der Kanalisation oder einem abrissreifen Haus im ärmsten Viertel der Stadt, dessen Bewohner zudem alle tot sind.

Außerdem sind Spieler - und da will ich mich selbst überhaupt nicht ausschließen - Umgebungen mit mehreren weichen Lichtquellen gewohnt. Wer will schon Charaktere sehen, deren eine Hälfte nahezu schwarz ist? Also gibt es in den Wohnungen der Wohlhabenden reichlich Lampen - und überall anders neben kleinen Feuern Dutzende von Kerzen und Petroleumlampen mit unendlicher Brenndauer, die zudem eigentlich keiner in diesen Massen aufgestellt haben kann, der sich nicht auch elektrischen Licht leisten könnte. Hinzukommen diffuse Lichtquellen aus dem permanenten 4 Uhr Morgengrauen, das es Ende Oktober so früh gar nicht gibt. Wer sich da noch ein Bisschen Nachtgefühl erhalten will, muss den Gammawert in den Optionen reduzieren.

Der Tod und die Akzeptanzlücke

Ansonsten hat sich Dontnod für die Gestaltung der Umgebungen ganz klar uneingeschränkt den "Daumen rauf" verdient. Ich habe jetzt keine Fotos aus der Zeit mit dem Spiel verglichen, aber dieses von der zweitschlimmsten Epidemie aller Zeiten heimgesuchte London wirkt glaubwürdig - man geht davon aus, dass mindestens 3 % der damaligen Weltbevölkerung gestorben sind, nur die Pest (in Europa 1347 - 1351) kam auf 10 % bzw. 30 % aller Europäer. Umso mehr, wenn man in Betracht zieht, dass der Virus damals mutierte und ihm hauptsächlich Erwachsene zwischen 20 und 40 zum Opfer fielen, also gerade Menschen die aufgrund ihres Berufslebens, Studiums oder auch Nachtlebens einen regen Austausch mit anderen Menschen pflegen.

Zu gerne nur würde ich trotz den Tricks bei der Beleuchtung die Grafik uneingeschränkt preisen, doch "Vampyr" ist nicht nur ein Spiel, bei dem man auf andere einschlägt, sondern auch auf andere einredet. Gerade wenn man sich weiterhin so wie ich mehr als Arzt denn als Vampir sieht, gilt es eine Menge Gespräche zu führen, um einen permanenten Heilungserfolg sicherzustellen. Und leider treffen die Gesichter und die Animation zu vieler NPCs in den Dialogen noch knapp den Gruselgraben - oder zu Deutsch besser die Akzeptanzlücke. Während "Mass Effect" (2007) mir immer als das erste Videospiel in Erinnerung bleiben wird, das die Lücke meisterte, wird mir "Vampyr" ganz sicher noch lange aus dem gegenteiligen Grund in Erinnerung bleiben, so unglücklich sind manche Bewegungen und so einfach manche Gesichter.

Fazit:

Witzigerweise ist "Vampyr" trotz meiner herzensguten Spielweise mit über 500 Tötungsdelikten nicht meilenweit von den 850 in "The Order: 1886" entfernt, fühlte sich aber trotzdem vollkommen anders an. Zum einen ist das natürlich der fünffachen Spieldauer von maximal 35 Stunden inkl. aller Nebenquests geschuldet, zum anderen kennt Dr. Reid auf Wunsch anders als Sir Galahad eben auch andere Formen der Konfliktbewältigung als erst zu schießen, dann noch einmal zu schießen und solche Parolen auszugeben wie: "Bevor ich es nicht sage, töten wir keine Unschuldigen!"

Apropos ausgeben: Da es sich bei "Vampyr" um keinen AAA Titel handelt, gibt es keine deutsche - wie üblich sowieso verhunzte - Sprachausgabe sondern lediglich optionale deutsche Untertitel. Ansonsten muss man aber kaum Abstriche machen. Ja, es gibt kleinere Bugs wie vertauschte Tooltips für die Vampirfähigkeiten oder mir ist zweimal der Ton abgestürzt (kann aber auch an dem derzeit megabescheidenem OS der Xbox One liegen, ich warte verzweifelt auf das nächste Update), aber ich hatte nie den Eindruck, dass Dontnod irgendwelche Mühen gescheut hätte.

Im Gegenteil: Die Sprecher sind gut, die Musik ist fantastisch und auch die Kämpfe machen akustisch ordentlich was her. Überhaupt läuft die Spielmechanik von "Vampyr" richtig rund, so dass es auch im 100. Kampf noch Spaß macht, den Vampirjägern den Hals aufzureißen, die mich eben noch anzünden wollten. Eine Warnung kann ich eigentlich nur an die Spieler aussprechen, die mit laberlastigen Werken nichts anfangen können. Natürlich bleibt dann immer noch die Möglichkeit anders zu spielen und/oder die Dialoge einfach wegzudrücken, aber "Vampyr" ist in meinen Augen dann am interessantesten, wenn man sich auf die moralischen Konflikte zwischen Arm und Reich, Alteingesessenen und Zugewanderten und bezüglich der Nahrungskette einlässt.



  POSITIV:
  - super Atmosphäre
  - starkes Kampfsystem
  - runde Spielmechanik


  NEGATIV:
  - hässliche Gesichter
  - evtl. zu laberlastig